Flucht – gestern und heute

Flucht – gestern und heute Thema beim Volkstrauertag: Vor 80 Jahren wurden alle Kehlerinnen und Kehler zu Flücht-lingen

80 Jahre ist es (am 23. November) her, dass alle Kehlerinnen und Kehler binnen weniger Stunden zu Flüchtlingen wurden: Am Tag der Befreiung Straßburgs von der Nazi-Herrschaft durch die Alliierten und die französische Armee mussten sie ihre Häuser und ihre Stadt überstürzt verlassen. In der Gedenkstunde zum Volkstrauertag am 17. November schlugen die Mitglieder der Zeitzeugen-AG des Einstein-Gymnasiums mit einem Video und Oberbürgermeister Wolfram Britz in seiner Rede den Bogen von der Vergangenheit zur Gegenwart: Flucht – gestern und heute. Außerdem stellten die Jugendlichen mit drei neuen Graffiti-Wänden und einer Hörstation vor, wie sie die Umgestaltung der Kriegsgräberstätte in Kooperation mit der Stadt im dritten Jahr fortgesetzt haben. (mit Videos)

Flucht - gestern und heute lautet das Thema des Videos, in dem Schülerinnen und Schüler des Einstein-Gymnasiums Berichte von Zeitzeugen der Evakuierung Kehls denen von jungen Geflüchteten aus Syrien und der Ukraine gegenüberstellen.

Zwei Mitschülerinnen aus Syrien, zwei Mädchen und einen Jungen aus der Ukraine haben Schülerinnen und Schüler des Einstein-Gymnasiums für den ersten bei der Gedenkstunde gezeigten Film befragt. Gemeinsam mit ihrem Lehrer Uli Hillenbrand sprachen sie außerdem mit Lore Kiefer und Hans Steiger, die beide im Kindesalter die Evakuierung von Kehl am 23. November 1944 erlebt haben. „Ihre Geschichten unterscheiden sich nur in Nuancen“, sagt Oberbürgermeister Wolfram Britz in seiner Rede. Sie alle waren Kinder, sie alle hatten große Angst, mussten ihre Heimat verlassen, konnten nur wenige Dinge mitnehmen. Sie wurden – damals wie heute – von Familienmitgliedern getrennt, flohen ins Ungewisse und wurden längst nicht immer gut aufgenommen. Sie galten – damals wie heute – manchem als unerwünscht, als Eindringling. Aus Zeitzeugenberichten ist bekannt, dass der Gang durch die neue Stadt oder das neue Dorf einem Spießroutenlauf gleichkam; Geflüchtete aus Kehl wurden als „Westwallzigeuner“ oder als „Halbfranzosen“ verunglimpft.

Dass das Leiden im Krieg ist nicht nur ein politisches oder nationales Problem ist, sondern eine menschliche Tragödie – über alle geografischen und kulturellen Grenzen hinweg, machte Oberbürgermeister Wolfram Britz in seiner Gedenkrede deutlich.

Leid und Schmerz kennen keine Grenzen. Sie sind universell und betreffen alle Menschen gleichermaßen, unabhängig von ihrer Nationalität, dem Land, in dem sie leben, oder ihrer Religion“, fasst OB Britz seine Schilderungen der Befreiung Straßburgs und der Evakuierung Kehls zusammen, die er collagenartig den aktuellen Zahlen des UNHCR zu Flucht und Vertreibung weltweit gegenüberstellt: 122,6 Millionen Menschen waren Ende Juni auf der Flucht; darunter 47 Millionen Kinder. 2,7 Millionen Geflüchtete und Asylsuchende lebten Mitte 2024 in Deutschland.

„In Zeiten des Krieges oder auf der Flucht erfahren Menschen, dass die physischen und emotionalen Verletzungen, die sie erleiden, nicht von der Farbe ihres Passes oder ihrer kulturellen Zugehörigkeit abhängen. Eine Mutter, die um das Leben ihres Kindes weint, eine Schwester, die um ihren Bruder trauert, ein Vater, der nach seiner Familie sucht, ein Flüchtling, der auf der Suche nach Sicherheit und Hoffnung ist – all diese Menschen teilen das gleiche unerträgliche Gefühl von Verlust, Angst und Verzweiflung. Das Leiden im Krieg ist nicht nur ein politisches oder nationales Problem, sondern eine menschliche Tragödie – über alle geografischen und kulturellen Grenzen hinweg.“ Wolfram Britz schließt seine Rede mit dem Dank an alle, die an diesem grauen Novembermorgen an der Gedenkstunde teilnehmen: „Wer das Leid eines anderen verkennt, verliert die Menschlichkeit, die uns alle miteinander verbindet.“ Deshalb sei es wichtig, die Geschichte der eigenen Stadt und der Vorfahren zu kennen: „Niemand kann uns garantieren, dass nicht auch wir zu Flüchtlingen werden können.“

Kriegsgräberstätte verändert sich weiter

Dass sich die Kriegsgräberstätte seit dem Volkstrauertag 2023 erneut verändert hat, wurde den Besucherinnen und Besuchern der Gedenkveranstaltung bereits beim Ankommen deutlich: Die sechs Graffiti-Platten unterhalb des Rundbaus, welche die Schülerinnen und Schüler des Einstein-Gymnasiums zum Volkstrauertag 2022 gestaltet haben, sind um drei weitere ergänzt worden. Zwei stehen direkt am Eingang von der Kinzigallee her, eine dritte macht Auto- und Radfahrer auf der Ringstraße beziehungsweise dem Kinzigdamm auf diesen besonderen Ort aufmerksam. Ein weiteres neues Element ist eine Hörbox, über die sechs Zeitzeugenberichte von Menschen abgerufen werden können, die von ihren Angehörigen erzählen, die auf diesem Friedhof begraben liegen. Außerdem gibt es Informationen zur Entstehungsgeschichte der Kriegsgräberstätte sowie zu ihrem Architekten Robert Tischler.

Die neuen Graffiti-Wände

Uli Hillenbrand, der die Zeitzeugen-AG initiiert hat und leitet, erläutert die Inspiration zu den Graffiti-Wänden am Eingang durch eine Ballade des Liedermachers Reinhard Mey aus dem Jahr 1988, als Deutschland und Europa noch geteilt waren. In der ersten Strophe heißt es:

Gleich im Eingangsbereich machen zwei große Graffiti-Tafeln Besucherinnen und Besucher darauf aufmerksam, dass sich der Veränderungsprozess der Kriegsgräberstätte fortsetzt.

„Erinnerungen verblassen und des Tages Ruhm vergeht
Die Spuren, die wir heute zieh'n, sind morgen schon verweht
Doch in uns ist die Sehnsucht, dass etwas von uns bleibt
Ein Fußabdruck am Ufer, eh[e]' der Strom uns weitertreibt
Nur ein Graffiti, das sich von der grauen Wand abhebt
So wie ein Schrei, der sagen will: „Schaut her, ich hab gelebt!“
So nehm ich, was an Mut mir bleibt, und in der Dunkelheit

Sprühe ich das Wort Hoffnung auf die Mauern meiner Zeit.“

Mitglieder der AG erklären die Bedeutung der Wände, die sie mit Unterstützung durch den Offenburger Graffiti-Künstler Raphael Lieser erstellt haben:

„Die erste Wand zeigt zentral einen abgestorbenen Baum inmitten einer dunklen Landschaft, die nur von Blitzen erhellt wird. Graue und schwarze Farben überwiegen. Ruinen, Gräber, verlorene Menschen auf einer Straße sind zu sehen, eine zerstörte Welt. Sie lässt sich verbinden mit aktuellen Nachrichten: Mit Konflikten und Kriegen, Hass, Gewalt und Hoffnungslosigkeit, mit Trauer und negativen Gefühlen. An dem Baum sitzt ein einzelner Mensch und denkt nach … Ein möglicher Gedanke lässt sich mit dem Schriftzug verbinden: „In der Dunkelheit sprühe ich …“ …

Auf der Rückseite der Kriegsgräberstätte macht eine weitere Graffiti-Tafel Auto- oder Radfahrende auf die Bedeutung der Anlage aufmerksam.

Die zweite Wand greift diesen Gedanken auf: „In der Dunkelheit sprühe ich … Frieden … auf die Mauern meiner Zeit.“ Die zweite Wand bildet zugleich einen Gegensatz zur ersten. Vor dem Hintergrund einer Mauer heben sich die aufgesprühten Bilder und Wörter in vielen Farben ab. Deutlich ist ein dicker, blühender Baum zu sehen auf einem grünen Hügel. Die Mauer wird zur Fläche, um ein Zeichen zu setzen: Wir wollten das Wort „Frieden“ in unterschiedlichen Sprachen festhalten. Die bunten Wörter bedeuten alle dasselbe. Sie brauchen keine Übersetzung. Wer die Sprache nicht kennt, wird vielleicht neugierig. Wer die Sprache spricht, wird ein vertrautes Wort entdecken. In Frieden zu leben, bleibt dabei das Ziel und der Wunsch von Menschen auf der ganzen Welt, egal welche Sprache sie sprechen. Die Kriegsgräberstätte in Kehl und ihre tausenden Kriegstoten erinnern bis heute daran, was die Folgen sind, wenn das nicht gelingt.

Unsere dritte Wand steht jetzt auf der Rückseite der Anlage. Hier sieht man an der Straße nur eine Mauer und das sogenannte „Ehrenmal“. Durch unseren Schriftzug „Kriegsgräberstätte“ werden auch Vorbeifahrende darauf hingewiesen, was sich hier befindet. Mit den gesichtslosen Silhouetten lassen sich die Schicksale der vielen Menschen verbinden, die oft unbekannt auf der Kriegsgräberstätte begraben wurden. Neben einzelnen Kreuz-Symbolen gleichen die Sterne dabei Gräberfeldern und erinnern an die Kriegstoten an diesem Ort. Über allem steht ein Mond mit dem Peace-Zeichen, hell leuchtend und dennoch entfernt.“

Zur Hörstation

„Hier auf der Kehler Kriegsgräberstätte liegen mehr als 2100 Kriegstote begraben. Bis auf die Namen und Lebensdaten auf den Grabplatten, soweit sie bekannt sind, hat der Ort selbst keine Auskunft über die Menschen gegeben. Deshalb war und ist es unser Ziel, allen, die die Kriegsgräberstätte aufsuchen, mehr Informationen zu liefern, über die Entstehung dieses Friedhofs, über den Architekten und sein Werk und nicht zuletzt über die hier begrabenen Kriegstoten. Die Hörstation am Eingang mit ihrer Tafel will dazu beitragen. Sie enthält auch Erinnerungen von Angehörigen, aufgezeichnet an einem Küchentisch in Kehl oder im Altersheim in Rüsselsheim, von Menschen, die heute am Volkstrauertag hierhergekommen sind, aber auch von Angehörigen, die zwischenzeitlich leider verstorben sind. Auch wenn ihre Erinnerungen nur ein Bruchteil sind angesichts der großen Zahl der Toten, schaffen sie es vielleicht trotzdem, eine abstrakte Zahl anschaulich zu machen.“

Die bei der Gedenkveranstaltung gezeigten Videos

Das neue Video zur Umgestaltung

Flucht früher und heute

Das erste Video zur Umgestaltung