Auszeit vom Krieg
Auszeit vom Krieg: 40 Schülerinnen und Schüler aus Charkiw in Straßburg und Kehl
Sie (über)leben unter kaum vorstellbaren Bedingungen: Seit zweieinhalb Jahren dürfen Kinder und Jugendliche in der Region Charkiw nicht mehr zur Schule gehen, der Unterricht findet nur noch online statt. Das Haus zu verlassen, kann lebensgefährlich sein. Seit Monaten stehen ihre Wohnorte unter russischem Beschuss. Treffen mit Freunden oder Sport: Fehlanzeige. Jetzt waren 40 Zwölf- bis 14-Jährige aus dem Kriegsgebiet in Straßburg und Kehl sowie im Großraum Paris zu Gast.
Allen war eines gemein: Sie müssen mit traumatischen Erlebnissen fertig werden. Die Väter mehrerer Kinder sind an der Front gefallen, andere hat der Krieg gar zu Vollwaisen gemacht, wieder andere trauern um ihre Brüder, weitere Familienmitglieder, gute Freunde. Sie alle fürchten neue Nachrichten auf ihren Handys ebenso sehr wie das Ausbleiben von Nachrichten: Beides kann bedeuten, dass wieder ein geliebter oder vertrauter Mensch gestorben ist.
Der Krieg hat die Kinder und Jugendlichen vor der Zeit erwachsen werden lassen: Mit ernster Miene verfolgen einige von ihnen den Empfang, den die Stadt Straßburg zu ihrer Begrüßung im historischen Rathaus gibt, kein einziges Lächeln huscht über ihr Gesicht. Sie filmen die kleine Zeremonie mit Musik, gespielt von ukrainischen Landsleuten, für Geschwister und Angehörige zu Hause. Anderen ist die Freude darüber, nach endlosen Monaten wieder mit Gleichaltrigen zusammen sein zu können, anzumerken; sie machen Selfis mit Oberbürgermeister Wolfram Britz und der Straßburger Beigeordneten für internationale Beziehungen, Véronique Bertholle. Sie lachen, freuen sich auf das Programm das vor ihnen liegt.
Wie schnell die Verdrängung des Kriegsgeschehens in der Heimat zusammenbrechen kann, zeigt sich, als die Gruppe bei einem Stadtspaziergang in Straßburg auf mit drei mit Maschinengewehren bewaffnete Soldaten trifft, die dort in den Straßen patrouillieren, seit in Frankreich die höchste Terrorwarnstufe gilt. Manche der Kinder erschrecken und sehen sich instinktiv nach Deckung um, berichtet ein französischer Betreuer. Jedes Flugzeug am Himmel beunruhigt die Jugendlichen und ihre Betreuerinnen.
Den Kindern und Jugendlichen eine kleine Auszeit vom Krieg zu bieten, das ist das Ziel der Städte Straßburg und Kehl, der europäischen Gebietskörperschaft Elsass (CEA) und der Région Gand Est in Kooperation mit gemeinnützigen Jugendorganisationen aus Frankreich und der Ukraine. Die Schülerinnen und Schüler besichtigen touristische Attraktionen in Straßburg und im Elsass, viel Raum bleibt dabei für Bewegung und Sport.
Ihren Bewegungsdrang können die Mädchen und Jungen auch im Haus der Jugend ausleben, wo sie, kaum angekommen, damit beginnen, Basketball oder Tischtennis zu spielen, zu kicken und bei Diskobeleuchtung zu ukrainischen Hits zu tanzen. Der Europapark lädt die Kinder und Jugendlichen in den Park ein und ermöglicht ihnen in Kooperation mit der Stadt Kehl unvergessliche Stunden – für einige Kinder „der schönste Tag in meinem Leben“, wie sie gegenüber ihren Betreuerinnen sagen.
Mit einem Wochenende in den Vogesen endet der Aufenthalt der Kinder und Jugendlichen in der Grenzregion; im Anschluss verbringen sie – mit finanzieller Unterstützung der Groupe Aéoport de Paris – noch eine Woche auf der Ile de France, bevor sie mit dem Bus die lange Heimreise antreten.
Die Städte Straßburg und Kehl, die Charkiw schon drei Monate nach dem russischen Überfall auf die Ukraine ihre Solidarität zugesichert hatten (siehe Hintergrund), wollten den jungen Besucherinnen und Besuchern mit dem gemeinsamen Empfang eine Botschaft mit auf den Heimweg geben: „Ich wünsche mir, dass ihnen die Partnerschaft zwischen Straßburg und Kehl, unser Umgang miteinander und die Leichtigkeit, mit der sie mehrmals von Frankreich nach Deutschland wechseln konnten, ein bisschen Hoffnung gibt. Hoffnung darauf, dass es nach einem mörderischen Krieg Frieden und sogar Freundschaft geben kann“, formuliert Oberbürgermeister Wolfram Britz; Jeanne Barseghian spricht „von Hoffnung auf eine bessere Zukunft“.
Hintergrund
Bereits am 31. Mai 2022, drei Monate nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine, schicken die Straßburger Oberbürgermeisterin Jeanne Barseghian und OB Wolfram Britz einen gemeinsamen Brief an ihren Amtskollegen Ihor Terekhov in Charkiw. Den Kontakt hatte Darya Romanenko hergestellt, die gleichermaßen Kehlerin und Bürgerin von Charkiw ist. In dem Schreiben kündigen die beiden Stadtoberhäupter nicht nur einen Hilfstransport an, sondern geben der Hoffnung Ausdruck, dass sich – nach dem Krieg auch die Möglichkeit – für einen Jugendaustausch eröffnet.
In der Folge organisiert die Gruppe „Kehler schicken Hilfe“ mit Christian Meyerhoff und Prisca Lutz an der Spitze, mit Unterstützung der beiden Städte, der Eurométropole de Strasbourg und des Zivilschutzes des Unter-Elsass Hilfsgüter für die Region; Jeanne Barseghian und Wolfram Britz verabschieden den ersten Transport am 22. Juni 2022.
Am 26. Oktober 2022 beschließt der Kehler Gemeinderat drei ausgemusterte Feuerwehrautos, darunter zwei Löschfahrzeuge mit Wassertanks an die ostukrainische Stadt zu spenden, anstatt sie zu verkaufen. Kurz darauf starten die mit Hilfsgütern beladenen Fahrzeuge in Richtung ukrainische Grenze. Am Steuer sitzen sechs Angehörige der Freiwilligen Feuerwehr Kehl, die sich freiwillig für die Überführung der Fahrzeuge gemeldet haben. Angeführt werden sie von Kommandant Viktor Liehr.
Weitere Beteiligte an der Organisation
Dem Besuch der Jugendlichen und ihrer vier ukrainischen Betreuerin ging eine mehrmonatige Vorbereitung voraus, Straßburg und Kehl konnten sich dabei auf die Erfahrungen der Fédération Général des PEP und des Programm Europe Prykhystok stützen, die seit 2022 für junge, vom Krieg betoffene Ukrainer solche Erholungszeiten organisieren.